Patrick-Astrid Defossez
Contrepoings
Musique classique, contemporaine et improvisée

CiAr Classics CC 018
1 CD • 70min • 2022, 2023, 2024
16.02.2025
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Der belgische Komponist und Pianist Patrick-Astrid Defossez, Jahrgang 1959, versteht sich als Grenzgänger zwischen Klassik und Jazz, Komposition und Improvisation, klassischem Instrumentarium und elektronischen Klängen, ein Ansatz, der von ihm selbst auch mit dem Schlagwort „pluriästhetisch“ versehen wird. Auf seinem neuen Album, Contrepoings überschrieben, ist er zusammen mit Anne-Gabriel Debaecker (Schlagzeug inklusive Kristallklangschalen und Elektronik) sowie dem Pianisten Jérémie Favreau zu erleben. Das Programm umfasst vor allem Werke von Defossez selbst, bezieht aber auch Musik von Claude Debussy und Albert Roussel mit ein.
Children’s Corner transformiert
Man muss schon etwas ausholen, um präziser zu formulieren, was sich hier musikalisch ereignet, zumal es aus der Trackliste nicht immer eindeutig hervorgeht. Am Beginn stehen die ersten drei Stücke aus Debussys Children’s Corner, aber in freien Ab- und Umwandlungen, wobei Favreau offenbar größere Teile der Originalstücke spielt, während Defossez um sie herum improvisiert in Form von Prä-, Inter- und Postludien oder Transformationen mancher Abschnitte, teilweise sekundiert von Debaecker an Schlagzeug und Elektronik. Doctor Gradus ad Parnassum etwa beginnt mit Raunen, Rascheln, leise pochender Rhythmik, dann Klavierklängen, aus denen sich Debussys Stück schließlich gleichsam herausschält. Ähnliches geschieht am Ende: hier wird der resolute C-Dur-Schluss ersetzt durch ein Sich-Verlieren in abebbenden Figuren, wie häufig auf der CD mit viel Pedal und (Nach-)Hall. Der Beginn von Jimbo’s Lullaby wird durch eine Improvisation ersetzt, in der die einleitende Bassfigur des Originals eine zentrale Rolle spielt. Unabhängig von Geschmacksfragen: die Klarheit (und Genialität), die Debussys Musik auszeichnet, geht diesen Versionen entschieden (und sicherlich sogar bewusst) ab, Debussys Musik wird mit einer Art Patina des Ungefähren überzogen.
Ein musikalischer Bogen um Roussels Kanon
Roussels Petit canon perpétuel (der ja schon im Original offen angelegt ist, u.a. indem er von Mal zu Mal höher erklingt und in diesem Sinne theoretisch immer weiter fortgesetzt werden könnte) wird von zwei Stücken Defossezs attacca umrahmt, also als Teil eines musikalischen Bogens begriffen. Das erste davon, Si présent à l’avénir, bereitet Roussels Stück motivisch vor, während Matin calme V auf den weiteren Verlauf des Programms vorausweist. Ohne Eingriffe erklingt anschließend der erste Satz von Roussels Sonatine op. 16, wohl gespielt von Favreau; eine ziemlich robuste und letztlich pauschale Lesart, zu der es viele deutlich subtilere und differenziertere Alternativen gibt (wobei das Stück hier natürlich vor allem als Teil eines größeren Programms zu betrachten ist).
Die Rolle von Klang und Atmosphäre
Den größten Teil des Albums machen acht Stücke eines Klavierzyklus von Defossez selbst aus, genannt Le livre de... Matin calme (2012), wobei wohl erneut Adaptionen für die vorliegenden Aufnahmen vorgenommen worden sind (und eine gewisse Flexibilität sicherlich Teil des Werks per se ist). Sieben dieser Stücke beschließen die CD, variabel in ihrer Länge von zwei bis zwölf Minuten. Der Morgen, den Defossez hier beschwört, ist zwar weitgehend ruhig, es dominieren gemessene Tempi (agitierte Abschnitte im Stile von Jazzimprovisationen, so etwa in Matin calme II, bleiben Episode), aber deshalb nicht unbeschwert oder heiter, eher eine Art grüblerische Meditation, mal in eher milder Atonalität gehalten, meist aber mit tonaler bzw. modaler Grundierung. Hinsichtlich der bestimmenden Rolle kurzer Motivfragmente auch an Minimal Music erinnernd (Matin calme IV), ist die Klanglichkeit der Musik deutlich von der Tradition französischer Klaviermusik bis hin zu Messiaen geprägt, wie der Klang auch in den Aufnahmen selbst eine wesentliche Rolle spielt, u.a. durch Verwendung zweier verschiedener Flügel mit gekreuzten bzw. parallelen Saiten. Die Momente, in denen diese Charakteristika besonders exponiert zur Geltung kommen, gehören sicherlich zu den interessantesten des Albums.
Morgendlich-meditatives Verharren
Wie auf der gesamten CD werden Schlagwerk und Elektronik in diesen Stücken eher dosiert eingesetzt, als punktuelle Erscheinungen, zur Unterstützung von Jazzpassagen (wenn sich am Ende von Matin calme I die Musik für einige Minuten konkretisiert und aus dem Zustand des Verharrens ein ostinater Jazzbass entsteht) oder in Form von leisen, gleichmäßigen Signaltönen. Überhaupt: zwar finden hier und da auch Verfremdungseffekte und gelegentlich etwas Mikrotonalität (Matin calme X) Eingang, aber stets in eher moderater Dosis und letztlich der verhalten-meditativen Atmosphärik verpflichtet, die bei aller „Pluriästhetik“ das Album doch über weite Strecken entscheidend bestimmt und auch die Debussy-Adaptionen wesentlich (um-)prägt.
Holger Sambale [16.02.2025]
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Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Claude Debussy | ||
1 | Doctor Gradus ad Parnassum (Children's Corner L 113) | 00:06:28 |
2 | Jimbo's Lullabye (Children's Corner L 113) | 00:05:42 |
3 | Serenade of the Doll (Children's Corner L 113) | 00:03:34 |
Patrick-Astrid Defossez | ||
4 | Si présent à l'avenir, un soudain liminaire | 00:03:39 |
Albert Roussel | ||
5 | Petit canon perpétuel | 00:03:07 |
Patrick-Astrid Defossez | ||
6 | Matin calme V | 00:03:20 |
Albert Roussel | ||
7 | Sonatine op. 16 | 00:06:26 |
Patrick-Astrid Defossez | ||
8 | Matin calme II | 00:04:56 |
9 | Matin calme I | 00:12:22 |
10 | Matin calme IV | 00:04:01 |
11 | Matin calme VIII | 00:01:48 |
12 | Matin calme VII | 00:03:30 |
13 | Matin calme IX | 00:02:50 |
14 | Matin calme X | 00:08:44 |
Interpreten der Einspielung
- Patrick-Astrid Defossez * 1959 (Klavier)
- Anne-Gabriel Debaecker (Klavier)
- Jérémie Favreau (Klavier)