
DG 477 8078
2 CD • 1h 50min • 2008, 2009
09.11.2009
Künstlerische Qualität:
Klangqualität:
Gesamteindruck:
Wenn man Maurizio Pollinis Annäherung an den gewaltigen Kosmos von Bachs Wohltemperiertem Klavier als intellektuell bezeichnet, so ist das auch wieder bloss eine (verbale) Annäherung. Gewiss ist da einer am Werk, der die Kontrolle nie verliert und nie ausser Acht lässt. Man könnte sogar von einer „objektiven“ Interpretation sprechen, aber das bleibt natürlich relativ, denn die Wahl des Instrumentes, des modernen Flügels und somit fern von historischer „Authentizität“, legt bereits den Weg fest. Auf jeden Fall gehen, um einen Seitenblick zu prominenten Klavierkollegen zu werfen, dem italienischen Pianisten sowohl das Exzentrische eines Glenn Gould wie die subjektive Gestik eines Friedrich Gulda ab. Eher mag man an seinen einstigen Lehrer Arturo Benedetti Michelangeli denken, zumindest in der bewussten Luzidität der Gestaltung. Benedetti hat übrigens kaum je Bach gespielt, und auch Pollini hat lange Zeit einen vorsichtigen Bogen um diese Musik gemacht. Im Konzertsaal probiert er es nun seit einiger Zeit aus, die CD-Einspielung des ersten Teils des Wohltemperierten Klaviers ist seine erste diskographische Tat auf diesem Felde. Weil er, wie er in Interviews verkündete, „Bach nicht den Experten überlassen will“.
Klarheit also, Sensibilität und immer wieder wohlformulierte Schönheit. Kein mystisches Drum und Dran um verborgene spirituelle Botschaften, sondern grosse, hintersinnig konstruierte Musik. Der Ansatz gibt sich nüchtern, nicht aber einförmig; bei diesem Pianisten ist alles bedacht, auch das Emotionale. Das kommt gerade den Fugen zugute, die Pollini so weit wie möglich – und bei ihm sind die Möglichkeiten stupend – auf seinen Tasten zu „registrieren“ sucht. Nichts wird forciert, nichts wird überbetont. Immerhin kann Pollini der Versuchung nicht ganz widerstehen, in die Präludien gelegentlich so etwas wie einen affektreichen Ausdruck hineinzubringen, ja sogar „romantische“ Vorahnungen herauszustreichen. Das gilt im besonderen für jene Abschnitte, die dergleichen zu suggerieren scheinen: etwa die innerlich zerrissene Nummer 8 in es-Moll oder die schmerzlich gesteigerte Nummer 22 in b-Moll. Die meisten Stücke sind ja sehr kurz, Miniaturen, die auf engstem Raum gebunden sind. Mitunter erhält man den Eindruck, dass Pollini entschlossen auf jene Teile zusteuert, die weiter ausholen (die Fugen 4 und 8 sowie insbesondere das h-Moll-Schlussstück mit seinen chromatischen Ausweitungen) und in denen er eine gewisse architektonische Struktur ausformen kann.
Bach hat sein Wohltemperiertes Klavier sowohl als didaktische Aufgabe („zum Nutzen der Lehr-begierigen Musicalischen Jugend“) wie in einem höheren Sinne zum „Besonderen Zeitvertreib“ verstanden. Solche Doppelbödigkeit kommt bei Pollini gut zum Tragen: seine Darstellung ist geradlinig und doch hintergründig, sie verbindet eine gelegentlich kühle Ästhetik mit einem Espressivo, das seine Kraft aus den Tönen selber zu schöpfen sucht. Es ist nicht zuletzt die Verbeugung vor einer Musik, die im Interpreten weniger den auftrumpfenden Virtuosen als den reifen Gestalter sucht. Auf dieses Abenteuer hat sich der inzwischen 67-jährige Pianist offenbar gerne eingelassen.
Mario Gerteis † [09.11.2009]
Anzeige
Komponisten und Werke der Einspielung
Tr. | Komponist/Werk | hh:mm:ss |
---|---|---|
CD/SACD 1 | ||
Johann Sebastian Bach | ||
1 | Das Wohltemperierte Klavier Buch I BWV 846-869 |
Interpreten der Einspielung
- Maurizio Pollini (Klavier)